Philosophie

„Ich glaube, auch du, lieber Gorgias, weißt, wie Gespräche normalerweise ablaufen. Wenn die Leute sich über etwas streiten und der eine behauptet, der andere habe nicht recht oder drücke sich nicht deutlich aus, so werden sie unwillig und meinen, man würde aus persönlicher Missgunst gegen sie so reden. Schließlich gehen sie auseinander, indem sie sich gegenseitig beschimpfen und solche Dinge aussprechen, dass sich die Anwesenden ärgern, zugehört zu haben. Weshalb sage ich das? Weil ich fürchte, wenn ich dich widerlege, könntest du annehmen, ich rede nicht aus Eifer für die Sache, sondern gegen dich persönlich. Wenn du jedoch zu den Leuten gehörst, zu denen auch ich zähle, möchte ich das Gespräch gerne fortsetzen. Zu welchen gehöre ich denn? Zu denen, die sich gerne widerlegen lassen, wenn sie nicht recht haben, und die auch gerne selbst widerlegen, wenn sonst jemand nicht recht hat, die aber gewiss ebenso gerne selbst widerlegt werden, als dass sie andere widerlegen. Es ist ja besser, selbst von dem größten Übel befreit zu werden, als einen anderen davon zu befreien. Nun ist nichts, denke ich, ein so großes Übel für den Menschen als irrige Meinungen über das Gute und die Tugend, wovon jetzt die Rede ist zwischen uns. Wenn auch du dieser Ansicht bist, wollen wir unser Gespräch fortsetzen; wenn nicht, sollten wir es beenden".

Sokrates in Platons Dialog „Gorgias”